Aktuell

Milliardenschwerer Wortbruch

Die Wiederherstellung des Berliner S-­Bahn-Netzes ist gefährdet

Die Feiern zur Wiederinbetriebnahme der S-Bahn-Strecken nach Lichterfelde Ost und Tegel werden überschattet durch einen Milliardenverlust. 8,9 Mrd DM hatte Bundesverkehrsminister Wissmann im November 1993 dem Berliner Senat für die Wiederherstellung des S-Bahn-Netzes versprochen und sich damit u.a. die Zustimmung zur Bahnreform gesichert. Skandal Nr. 1: Der zugesagte Betrag ist inzwischen auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft. Das Land Berlin hatte der Bahnreform zugestimmt, aber der Bund hat danach sein Versprechen nicht gehalten. Skandal Nr. 2: Der Berliner Senat hat sich gegen die Mittelkürzungen nicht gewehrt, schlimmer noch, er hat indirekt sein Einverständnis signalisiert. Erst als der Tagesspiegel (dankenswerterweise) am 12. April diesen (keineswegs neuen) Vorgang zur "Seite 1-Skandalgeschichte" beförderte, kam die nötige Bewegung in das Thema. Nun besteht dank des in Berlin beginnenden mWahlkampfes die Chance, dieses Thema "am Kochen" zu halten - um der willen. Und deshalb soll nachfolgend auch der verkehrspolitische Sprecher einer Oppositionspartei zu Wort kommen: Michael Cramer (Bündnis 90/Grüne), der inzwischen auch über die Parteigrenzen hinweg als Verkehrsexperte anerkannt ist.

Über die 10 Kardinalfehler des Senats hinsichtlich der S-Bahn-Finanzierung

Am 04. November 1993 einigten sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Diepgen, Bahnchef Dürr und Bundesverkehrsminister Wissmann darauf, daß der Bund für die Grundsanierung in Berlin Bundesmittel in Höhe von 8,9 Mrd. DM bereitstellen will (sogenannter Nachholbedarf). Nach dieser Vereinbarung sollten 6,3 Mrd. DM in den Fahrweg und 2,6 Mrd. DM in die Fahrzeuge investiert werden. In der SFB-Abendschau vom 6.11.1993 bezeichnete Finanzsenator Pieroth diese Vereinbarung als einen "großen Verhandlungserfolg" von Eberhard Diepgen.

Hintergrund für diese Vereinbarung war der § 22 des Deutsche­-Bahn-Gründungsgesetzes: "Mit 22 Deutsche-­Bahn-­Gründungsgesetz kann sich dann für Berlin eine neue Rechtsgrundlage und die wesentliche Finanzierungsquelle Investitionen ergeben, die neben dem steht." (aus der Begründung zum Senatsbeschluß vom 5.10.1993). Deshalb formulierte Verkehrssenator Haase in derselben Senatsvorlage 3963/93 auch weiter: "Der Senat vertritt gegenüber dem Bund seine Erwartung, daß dieser seinen Verpflichtungen, die aus der S-Bahn-­Sanierung und der Fahrzeugmodernisierung resultieren, nachkommt, und die im Zuge der Bahnreform in Aussicht gestellten Mittel gemäß § 22 Deutsche-Bahn-­Gründungsgesetz hierfür einsetzt und insoweit die ansonsten zur Finanzierung heranzuziehenden Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) ersetzt werden".

Als Konsequenz spitzte Senator Haase dann folgendermaßen zu: "Berlin muß diese Forderungen mit Nachdruck an den Bund herantragen und seine Zustimmung zur Bahnreform von einer klaren Regelung der Altlastenfrage abhängig machen." Nach Abschluß der Verhandlungen hat Berlin im Bundesrat der Bahnreform zugestimmt, deren Inkraftsetzung eine Zweidrittelmehrheit notwendig war.

So positiv dieser vermeintlich "große Verhandlungserfolg" (Pieroth) von Eberhard Diepgen Berlin auch war, so negativ schlägt der Dilettantismus des Senats bei der Einforderung der Verhandlungsergebnisse für Berlin zu Buche: Insgesamt 10 Kardinal fehler sind dem Senat vorzuwerfen, durch die er die Verhandlungsmasse von 8,9 Mrd. DM so verspielt hat, daß mittlerweile nur 3,58 Mrd. DM übriggeblieben sind.

Kardinalfehler Nr.1: Vertrag ohne Mitzeichnung des Finanzministers

Eigentlich hätte auch der Regierende Bürgermeister wissen müssen (wahrscheinlich wußte er es auch), daß eine Vereinbarung mit einem Regierungsmitglied über 8,9 Mrd DM nur dann rechts verbindliche Qualität hat, wenn diese Vereinbarung vom Kabinett beschlossen wird bzw. zumindest der für die Finanzen zuständige Minister in diesem Fall Finanzminister Waigel - dieses Verhandlungsergebnis mitzeichnet. Weil der Senat darauf nicht bestanden hat, ist seine eigentlich positive Verhandlungsposition - pacta sunt servanda - ins Gegenteil verkehrt.

Kardinalfehler Nr.2: Auch im Hauptstadtvertrag S-­Bahn-Finanzierung

Obwohl die Sanierung des S-Bahn-Netzes, orientiert am Netz von 1961, mit dem Vermerk vom 4.11.1993 geklärt war, taucht die S-Bahn-­Sanierung knapp ein Jahr später, am 30.6.94, im Hauptstadtvertrag wieder auf: "S-Bahn-Linie S 4, Abschnitt Westend - Schönhauser Allee/Pankow (350 Mio. DM)". Damit hat Berlin ohne Not schriftlich das Abrücken vom ursprünglichen S-Bahn-Vertrag bestätigt und sich im Grunde die Zusagen des Bundes zweimal abhandeln lassen: Zum einen als teilungsbedingte, zum anderen als hauptstadtbedingte Maßnahme, obwohl auch im Selbstverständnis des Senats das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. So schreibt Finanzsenator Pieroth in einem Vermerk vom 28.03.1994 für Verkehrssenator Haase und den Regierenden Bürgermeister: "Der Bundesminister für Verkehr muß einen Weg ñnden, seine schriftlich gegebene Zusage zu erfüllen, die Kosten der S-Bahn-Sanierung zu tragen." Und weiter heißt es: "Berlin muß insbesondere darauf bestehen, daß die Finanzierung der S-Bahn-Sanierung nicht zu Lasten der Mittel für die Hauptstadtfinanzierung gehen darf, die der Bund auf 1,3 Mrd. DM (10 Jahre) plafondiert hat".

Zug
Endstation Lichterfelde Ost. Foto: Tariq Kaddoura
Streckenende
Ab dem 28. Mai 1995 fährt auf der Anhalter Bahn endlich wieder die S-Bahn, doch wann die Züge nach Lichterfelde Süd und Teltow weiterfahren können, ist noch immer ungewiß. Foto: Marc Heller

Diese Verhandlungsposition wurde besonders leichtfertig verspielt, denn von den 1,3 Mrd. DM aus dem Hauptstadtfonds werden 350 Mio DM für die Sanierung des S-Bahn-Nordrings zur Verfügung gestellt, obwohl sie schon in der 8,9-Mrd-DM-­Vereinbarung vom 04.11.93 verbindlich enthalten waren. Ein unerwartetes Geldgeschenk für den Bund, ein Verlust von 350 Mio DM für Berlin.

Noch am 1. Juni 1994 meinte Verkehrssenator Haase vor dem Verkehrsausschuß des Abgeordnetenhauses: "Welcher Anteil der S-Bahn-Grundinstandsetzung aus dem Hauptstadtfonds fließe, müsse ebenfalls noch diskutiert werden. Er jedoch halte diese Quelle nicht fur die richtige, da es sich um Nachholbedarf, nicht um Erfordernisse der Hauptstadt handele." (Zitat aus dem Inhalts-Protokoll der 64. Sitzung des Ausschusses Verkehr und Betriebe)

Dieser Position von Herrn Haase kann sich die Fraktion Bündnis 90/Grüne nur anschließen, sie fragt sich jedoch, warum dennoch 350 Mio DM aus dem Hauptstadtfonds für die Grundsanierung der S-Bahn genommen worden sind, obwohl es sich hier einwandfrei um "Nachholbedarf" handelte.

Kardinalfehler Nr. 3: Einvernehmliche Kürzung um 1,9 Mrd. DM

Am 28. September 1994 teilte Staatssekretär Ingo Schmitt in einem "Medien-­Info" der Öffentlichkeit mit, daß die Mittel des Bundes bereits auf 7 Mrd. DM heruntergestuft worden sind, und zwar von 6,3 auf "ca. 5 Mrd. DM" für Investitionen und von 2,6 Mrd. DM auf "ca, 2 Mrd. DM" für die Fahrzeuge. Diese völlig unkritische Mitteilung an die Öffentlichkeit kann nur als Einvernehmen über die Mittelkürzung von 1,9 Mrd. DM gewertet werden. Statt dessen hätten der Senat und die ihn tragenden Parteien wegen der Mittelkürzung von 1,9 Mrd. DM bei der S-BahnSanierung Alarm schlagen müssen.

Kardinalfehler Nr. 4: Schweigen bei Kürzung um 4 Mrd. DM

Am 19.12.1994 teilte die Fraktion Bündnis 90/Grüne anläßlich einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit mit, daß für die S­-Bahn-Sanierung statt der ursprünglichen 8,9 Mrd. DM für Investitionen und Fahrzeugbeschafïung bis zum Jahr 2002 insgesamt nur noch 4,9 Mrd. DM zur Verfügung stehen, also 4 Mrd. DM weniger, als im November 1993 vereinbart waren. Anstatt gegen die Kürzungen lautstark zu protestieren, dokumentierte der Senat öffentlich sein Einverständnis. Der Tagesspiegel zitiert am 20.12.1994: "Während der verkehrspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne, Michael Cramer, er rechnet hat, daß der Bund auch die Kosten für die Instandsetzung und den Wiederaufbau der Strecken von versprochenen 6,3 Milliarden DM auf nun nur noch 3,9 Milliarden DM gesenkt habe, räumt man in der Verkehrsverwaltung zwar Küzungen ein, die jedoch vereinbart seien. Die Summe werde nur gestreckt, sagte Chefplaner Ural Kalender. Dies sei ja auch sinnvoll, da man mehr als 700 Millionen DM im Jahr gar nicht ausgeben könne, weil dies keine Planung schaffe. Schon in diesem Jahr müßte die Bahn deshalb fast 80 Millionen DM zurückgeben." Mit solcher Leisetreterei gegenüber Bonn und Verharmlosung gegenüber der Öffentlichkeit ist die S-Bahn-Finanzierungszusage natürlich nicht durchzusetzen. Dies betrifft neben dem Senat auch und vor allem, wegen der großen Krokodilstränen, die Koalitionäre von SPD und CDU gleichermaßen.

Kardinalfehler Nr.5: Schweigen zur Auskunft der Bundesregierung

Aus einer nicht veröffentlichten, dem Senat aber bekannten Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Klaus­-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen geht hervor, daß es für die S­-Bahn-Fahrzeuge außer den bereits fest zugesagten 420 Mio für 100 Viertelzüge der Baureihe 481 gar nichts mehr vom Bund gibt. Die S-Bahn Berlin GmbH soll nach den Vorsteliungen der Bundesregierung die aus den "Einnahmen" finanzieren. In der Antwort auf die Kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Klaus-­Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen betr. "Wiederaufbau der S-Bahn Berlin" (Drs. 12/8571) heißt es nämlich: "Die Deutsche Bahn AG, die in Fragen der Abwicklung und Angebotsgestaltung im Personennahverkehr in eigener Zuständigkeit entscheidet, hat den Fahrzeugbedarf der Berliner mit 800 Viertelzügen angegeben. Ausgehend von der gegenwärtigen Struktur des Fahrzeugparkes müssen 550 Viertelzüge als Ersatz für überalter­te Fahrzeuge neu beschaft werden. Davon hat die Bundesregierung die Finanzierung von 100 Viertelzügen, die im Zeitraum 1995 - 1997 in Betrieb gehen, als investive Altlast zugesagt. Die Beschaffung weiterer Fahrzeugeinheiten soll zu Lasten der Deutschen Bahn AG erfolgen, wobei sich die Zugangsquoten nach den Betriebsprogrammen und denjeweìligen Finanzierungsmöglichkeiten und -prioritäten der Deutschen Bahn AG richten." Auch hierzu gab es keinen kritischen Kommentar des Senats oder der ihn tragenden Parteien, obwohl der Sachverhalt alarmierend war. Denn von den 470 Mio DM aus dem Bundeshaushalt sind mit den 100 Viertelzügen 420 Mio DM finanziert worden. 350 Mio DM fehlen noch aus dem GVFG Brandenburg und 1,78 Mrd. DM von seiten der Deutschen Bahn AG. Da Bahnchef Dürr die Vereinbarung vom 4.11.1993 mitgetragen hat, hätte die Deutsche Bahn AG schon längst aktiv werden müssen, um die 1,78 Mrd. DM für die Beschaffung neuer Fahrzeuge bereitzustellen. Nicht vom Senat und auch nicht von den Parteien CDU und SPD wurde weder bei der Bundesregierung, dem Land Brandenburg, noch bei Bahnchef Dürr die Erfüllung des Vertragstextes hinsichtlich der neuen Fahrzeuge eingefordert. Ein Fiasko angesichts der finanziellen Situation. Erinnert sei auch daran, daß Berlin einst dem IOC weismachen wollte. im Jahre 2000 gäbe es einen komplett neuen Fahrzeugpark.

Kardinalfehler Nr. 6: Bedingungslose Freigabe der S-Bahn-Trasse

Als die Deutsche Bahn AG für die Sanierung des Streckenabschnitts Eichkamp Spandau die Trasse der stillgelegten S-Bahn benutzen wollte, war Berlin in einer äußerst günstigen Verhandlungsposition. Für die Nutzung dieser Trasse durch die Fernbahn mußte zunächst nämlich auf der S-Bahn-Trasse ein neues Fernbahngleis verlegt werden, um den Zugbetrieb nach Hamburg nicht unterbrechen zu müssen. Da mit dem Vertrag vom 4.11.1993 die finanziellen Grundlagen für die gelegt waren und Senat, Bahn und Bundesregierung bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten bekundeten, daß die schnellstmögliche Wiederinbetriebnahme des S-Bahn-Netzes auf dem Stand von 1961 oberste Priorität hatte, hätte der Senat der Nutzung der S-Bahn-­Trassen für die Fernbahn nur unter der Bedingung zustimmen dürfen, daß zuvor beide S-­Bahngleise für den Streckenabschnitt bis Rathaus Spandau verlegt werden. Dann wäre es nämlich möglich gewesen, nach Abschluß der Baumaßnahmen die Fernbahntrassensanierung im Jahre 1997 nach kurzer Zeit die bis Rathaus Spandau in Berieb zu nehmen, weil nur noch die Stromschienen hätten angebracht werden müssen. Da der Senat darauf nicht bestand, ist das Datum 1997 für die Wiederinbetriebnahme der S-Bahn nach Spandau nicht zu halten. Offiziell wurde die Öffentlichkeit auf das Jahr 1999 vertröstet.

Kardinalfehler Nr. 7: Zustimmung zur Fernbahn ohne S-Bahn-Trasse

Auch bei der Neutrassierung der Fernbahn Spandau - Falkensee, wofür ein Planfeststellungsver­fahren notwendig war, hatte der Senat eine äußerst günstige Verhandlungsposition. Da er sich auf die Finanzierungszusage der S-Bahn berufen konnte, hätte er leicht durchsetzen können, daß mit dem Planfeststellungsverfahren für die Fernbahn gleichzeitig auch das für die S-Bahn nach Falkensee hätte durchgeführt werden müssen. Denn es wurde seit 1987 die Verschiebung der S-­Bahn-Wiederinbetriebnahme nach Spandau immer wieder mit dem Hinweis auf die notwendige Gleichzeitigkeit der Baumaßnahmen von S-Bahn und Fernbahn begründet. In dem Moment, wo die gleichzeitigen Baumaßnahmen realisiert werden können und müssen, verzichtete der Senat jedoch darauf. Der gesamte Bahnbau wäre dann nicht nur billiger gewesen - alles hätte in einem Zug gebaut werden können - auch die Inbetriebnahme der S-Bahn hätte spätestens mit Abschluß der Bauarbeiten 1997 erfolgen können. Da der Senat aber nicht in der Lage und willens war, die Unterlagen für die Planfeststellung der S-Bahn ebenfalls rechtzeitig abzuschließen, wurde diese einmalig günstige Chance vertan. Das Ergebnis ist sichtbar: Bis heute ist das Planfeststellungsverfahren für die S-Bahn nach Falkensee nicht eingeleitet worden, der Bund nimmt sukzessive seine Finanzierungszusagen zurück, und obendrein erklärt die Senatsverkehrsverwaltung die S-Bahn Spandau Falkensee überflüssig, weil dort ja eine Regionalbahn im 60-Minuten-Abstand fahren soll. Im Medien-Info vo 12.4.1995 erklärt nämlich die Senatsverkehrsverwaltung: "Die Lücken Spandau - Falkensee und mLichterfelde Süd - Teltow Stadt werden demächst durch die Regionalbahn bereits geschlossen, im Spandauer Bereich bereits Mai 95 und in Lichterfelde mit Fertigstellung der Anhalter Bahn, voraussichtlich 97/98, so daß in diesen Abschnitten die Gleichstrom-S­Bahn dadurch substituiert sein würde und erst später baulich in Angriff genommen wird. Unter dieser Voraussezung werden für die Wiederinbetriebnahme des S-Bahn­-Netzes keine empfindlichen Defizite erkennbar. Die wichtigen Lückenschlüsse sinf damit alle abgedeckt."

Kardinalfehler Nr. 8: BAB Neuköln wichtiger als S-Bahn-Ringschluß

Mit dem Lückenschluß der zwische Neukölln und Treptower Park hätte schon 1991 begonnen werden können, weil es auch oberste Priorität der rot-schwarzen Koalition war, die: Lücke schnellstmöglich wieder zu schließen. Die Verkehrsverwaltung zögerte aber mit der Erstellung der notwendigen Planunterlagen, weil ihr erst Ende 1994 definitiv bekannt war, wie groß der Querschnitt für die Straße "Am Treptower Park" sein würde. Der Querschnitt dieser Straße war abhängig von der Planung für die Verlängerung der Neuköllner Autobahn nach Treptow. Selbstverständlich hätte man auch an dieser Stelle - wie z. B. bei der S-­Bahn­-Verbindung Wannsee - Potsdam über den Teltowkanal - mit einer Behelfsbrücke diese lanungsunsicherheit provisorisch beseitigen können. Die Senatsverkehrsverwaltung zog es jedoch vor, überhaupt nicht zu reagieren. Noch am 17.3.1994 sagte anläßlich eines Ortsterrnins des Verkehrsausschusses Nordkreuz der Leiter des Regionalbereichs Netzprojekte, Herr Dipl.-­Ing. Beiche: "Die Bahn wartet auf die Mitteilung der Abmaße für das Brückenbauwerk über die Straße Am Treptower Park".

Mittlerweile ist das Planfeststellungsverfahren eingeleitet worden, mit den Bauarbeiten ist aber auch im Mai 1995 noch nicht begonnen worden. Ein Zeitpunkt, den Bausenator Nagel anläßlich der Eröffnung des Südrings im Dezember 1993 als Inbetriebnahmedaturn vorgesehen hatte.

Kardinalfehler Nr. 9: Nordring-Gelder wurden nicht abgerufen

Die rot­schwarze Koalitionsmehrheit hat für den Haushalt 1992 extra 40 Mio DM für die Wiederinbetriebnahme des S-Bahn-Nordrings von Westend nach Jungfernheide zur Verfügung gestellt um den schnellstmöglich an die U anbinden zu können. Bis heute ruhen auch auf diesem Teilstück die Bauarbeiten, wobei es schon 1993 hätte fertiggestellt werden können. Gelder waren vom Abgeordnetenhaus zur Verfügung gestellt worden, die Planungshoheit für die S-Bahn hatte bis 31.12.1993 der Senat. Alle Beteiligten wollten die schnellstmögliche Wiederherstellung des S-Bahn-Rings. Auf dem Ring war es anders als bei den Strecken nach Hennigsdorf oder Falkensee auch allen Beteiligten klar, daß hier nur eine Gleichstrom­-S-Bahn in Frage kommt. Wo diese 40 Mio DM geblieben sind, und warum sie nicht abgerufen worden sind, ist unbekannt. Verkehrssenator Haase waren diese Chancen Für die Berliner S-Bahn einfach gleichgültig. Er kümmerte sich lieber um die Aufhebung von Tempo 30-Zonen und Busspuren oder die Umbenennung von Straßennamen.

Kardinalfehler Nr. 10: 200 Mio DM Verlust wegen fehlender Planung

Da Berlin über keine ausreichenden Planungen fir die S-Bahn verfügte, wurden 1992 25 Mio DM und 1994 150 Mio DM an Bonn zurückgegeben. Inklusive der dafür notwendigen Komplementärmittel gingen so der S-Bahn insgesamt ca. 200 Mio DM verloren. Über diese Gelder freuten sich andere Kommunen, die vielfältige Schubladenprojekte auf Halde hatten und dank der Berliner Rückgabe diese verwirklichen konnten. Eigentlich hätte es in Berlin so sein müssen (die Fraktion Bündnis 90/Grüne hat in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen), daß durch umfangreiche Schubladenprojek­te - vor allem zum Wiederaufbau stillgelegter Strecken - nicht benötigte Gelder andere Kommunen für Berlin gewonnen worden wären. Unbegreiflich ist, daß Strecken in Berlin stilliegen, für deren Wiederherstellung keine Planfeststellungsverfahren notwendig sind, daß projektierte Bahnhöfe wie Oderstraße oder Kolonnenstraße allein aus finanziellen Gründen immer wieder zurückgestellt werden müssen, daß es noch weiterhin Bahnhofszugänge gibt, die seit dem Mauerbau geschlossen sind und daß selbst im Bau befindliche Maßnahmen wie Wartenberg Sellheimbrücke und Westkreuz - Spandau - Falkensee nicht realisiert werden.

Dies ist die Bilanz des Senats nach fast 5-jähriger Regierungstätigkeit in Sachen S-Bahn: Kein neues Projekt ist begonnen worden. Gerade mal die Maßnahmen, die der rot-grüne Senat eingeleitet hatte, sind abgeschlossen worden.

Fazit

Aufgeschreckt durch den Tagesspiegel-Artikel vom 12. April 1995 und der am selben Tag stattfindenden Sitzung des Verkehrsausschusses, auf der S-­Bahn-Chef Nawrocki das S-Bahn-Betriebs- und Finanzkonzept vorstellte, ist der Öffentlichkeit klar geworden, daß die S-­Bahn-lnvestitionsmittel gegenüber der Aussage von 1993/94 mehr als halbiert worden sind. Deshalb sahen sich der Senat und die ihn tragenden Parteien plötzlich genötigt, aufzuwachen und Stellung zu nehmen. Aus Peking meldete sich der Regierende Bürgermeister, die SPD­-Spitzenkandidatin Stahmer glaubte auch, sich äußern zu müssen, die Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD beschäftigten die Medienöffentlichkeit ebenfalls. Für den 10. Mai 1995 wurde von der Großen Koalition sogar eine Sondersitzung des Verkehrsausschusses über die S-Bahn­-Finanzierung beantragt, aber inzwischen schon wieder auf den 31. Mai verschoben.

Obwohl die Fakten seit mehr als einem halben Jahr bekannt sind und der Senat in Gänze wie auch die Parteien CDU und SPD fast viereinhalb Jahre geschlafen haben (die Anträge der Fraktion Bündnis 90/Grüne bezüglich der schnellstmöglichen Wiederinbetriebnahme von S-Bahn-Strecken datieren aus dem Jahr 1991), will man jetzt der Öffentlichkeit Aktivität vorgaukeln. Diese rhetorischen Kraftanstrengungen können jedoch nicht über die organisierte rot-schwarze Tatenlosigkeit in Sachen S-Bahn hinwegtäuschen. Denn fast nostalgisch mutet es an, den Landespressedienst vom 14.6.1991 zu lesen. Auf seiner ersten Pressekonferenz kündigte Senator Haase u.a. die Schließung des S-Bahn­-Rings 1995 (!) an. Stattdessen gab es mit Ausnahme des auch damals schon im Bau befindlichen Südrings auf dem Ring bis heute einen fünfjährigen Baustopp. So wird nicht nur der Stau nicht aufgelöst; so bleibt auch gespalten, was zusammnengehört.

IGEB

aus SIGNAL 3-04/1995 (Juni 1995), Seite 6-9

 

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