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Elektronisches Ticket: Das Null-Fehler-Projekt

Seit dem 1. Oktober 1999 läuft der von der BVG gemeinsam mit der S-Bahn GmbH und dem VBB gestartete Modellversuch.

Gestartet wurde der Test zunächst auf den U-Bahn-Linien 2 und 4. Die S-Bahnhöfe auf der Strecke zwischen Alexanderplatz und Zoo, die Fahrzeuge der Straßenbahn-Linie 2 sowie den Buslinien 100 und 348 werden erst in den nächsten Wochen mit den nötigen Lesegeräten ausgestattet. Ob die Zahl der anvisierten 25.000 Testpersonen erreicht wird, ist - trotz der eingeräumten Sonderkonditionen für die Tester - noch unklar. Die Einführung des ganzen Systems soll im Jahre 2002 erfolgen. Der BVG-Vorstandsvorsitzende, Rüdiger vorm Walde, benannte dafür aber sehr strenge Bedingungen: Eingeführt werden soll das System nämlich nur, wenn es sich im Modellversuch als „Null-Fehler-Projekt" erweist.

Tick.et Faltblatt
Mit bunten Faltblättern und vielen Gewinnen versucht die BVG derzeit die geplanten 25.000 Tester zu locken.

Viele Fragen sind im Zusammenhang mit dem elektronischen Ticket noch offen, auf die der Versuch eine Antwort geben soll. Während die nötige Technik in den letzten Jahren immer weiter entwickelt wurde, steht ihre Erprobung im großen Stil noch aus, gerade unter mitteleuropäischen Bedingungen.

Eine entscheidende Frage wird jedoch sein, ob diese Technik von den Fahrgästen akzeptiert wird. Die Veröffentlichungen der BVG lassen vermuten, daß alle Beteiligten profitieren - die Industrie verdient am Aufbau des Systems, die Verkehrsbetriebe sparen Betriebskosten und erhalten wertvolle Planungsdaten quasi gratis dazu, und der Kunde muß sich nicht mehr im Tarifsystem („Tarifdschungel") zurechtfinden und erhält künftig sogar „gerechtere Preise".Während für die Betriebe die Vorteile relativ unstrittig sein dürften (sofern die Technik funktioniert) ist dagegen weniger klar, ob die Fahrgäste davon wirklich profitieren werden.

Es wird nicht alles einfacher

Das für die Preisberechnung nötige An- und Abmelden ist ein deutlicher Komfortrückschritt gegenüber dem bisherigen Verfahren. Auch wenn man das Ticket nicht aus dem Geldbeutel herausnehmen muß, so muß man doch zumindest diesen jedes Mal in die Nähe des Lesegerätes bringen. Besonders trifft das natürlich die Zeitkarteninhaber, die bisher nur gelegentlich einmal ihre Karte hervorholen müssen, aber auch für Gelegenheitsfahrer ist das kein Fortschritt, da man das Ticket nicht nur jeweils einmal pro Fahrt, sondern beim Umsteigen auch entsprechend öfter lesen lassen muß. Teuer kann es für den Fahrgast insbesondere dann werden, wenn er das nun erforderliche „Auschecken" beim Verlassen des Bahnhofes, des Fahrzeuges oder beim Umsteigen vergißt. Dann nämlich muß zwingend der Fahrpreis bis zum Endpunkt der jeweiligen Linie berechnet werden.

Bei den bisherigen Versuchen zum elektronischen Ticket im Ausland waren auch vorher immer „geschlossene Systeme" vorhanden gewesen, die sich in Berlin aufgrund der baulichen Rahmenbedingungen und der fehlenden Personalausstattung jedoch nicht realisieren lassen. Teilweise (zum Beispiel in Hongkong) gab es nicht einmal Zeitkarten. Die Voraussetzung für die Akzeptanz bei den Nutzern waren von daher anders und günstiger. Noch dazu ist der Anteil der Zeitkartennutzer gerade in Berlin besonders hoch.

U-Bahn Eingang
Die Komponenten des Ticket-Systems im Eingangsbereich des U-Bahnhofs Alexanderplatz. Foto: Frank Böhnke

Viele Verkehrsunternehmen haben in den letzten Jahren mit Erfolg versucht, neue Dauerkunden zu gewinnen. Die kompliziertere Benutzung der Karte ist dabei sicher nicht hilfreich. Für Gelegenheitsnutzer wird dagegen - zumindest bei diesem Versuch - nichts geboten, da das Ticket nur als Monatskarte angeboten wird. „Niemand soll mehr nach dem richtigen Fahrschein suchen müssen" - dies ist nach Meinung der Verkehrsunternehmen der wesentliche Vorteil des elektronischen Tickets für den Kunden. Sicher kann das Zurechtfinden im Tarifsystem ein Problem sein, aber die Planer der Betriebe scheinen vergessen zu haben, daß Tarife nicht kompliziert sein müssen. Und für die Zukunft geht es ihnen ganz offensichtlich nicht um eine Vereinfachung der bisherigen Regelungen. „Leistungsgerechtere Tarife" klingt zunächst gut und „wer wenig fährt, zahlt weniger" auch. Man kann nur hoffen, daß es weiterhin einen Höchstbetrag (Kappungsgrenze) gibt - anderenfalls ginge ein weiterer Anreizfaktor für den Kauf von Zeitkarten und die dann häufige Benutzung von Bus und Bahn verloren - und die Verkehrsbetriebe würden sich unter Umständen ins eigene Fleisch schneiden.

Fallen die Fahrpreise, wenn Hertha absteigt?

Doch damit nicht genug: Die Tarife können (und sollen ?) noch weiter als bisher, etwa nach Ort und Zeit differenziert werden. Die Elektronik bietet hier ungeahnte Möglichkeiten: In der Lastrichtung am Morgen stadteinwärts mehr als tagsüber, in der Gegenrichtung etwas weniger, langsame Busse billiger als schnelle S-Bahnen, nicht nur eine Kurzstrecke, sondern alle x-km ein anderer Preis und alles womöglich kombiniert. Und wenn Hertha Heimspiel hat, dann wird auf der U2 und der S-Bahn nochmal ein Zuschlag erhoben. Vielleicht wird der aber gesenkt, wenn Hertha wieder absteigt...? In gewissen Grenzen können solche Unterscheidungen sinnvoll sein, um einen Anreiz zur Fahrt in weniger gefragten Zeiten zu geben. Dazu müssen diese aber nachvollziehbar sein.

Offenbar sind jedoch die Erfinder des elektronischen Tickets der Meinung, man könnte sich Erklärungen in Zukunft sparen und den Kunden einfach losfahren lassen. Motto: Am (Monats)Ende wird er schon merken, wie viel es gekostet hat.

Der BVG-Versuch ist nicht der einzige, der zur Zeit zum Thema elektronisches Ticket stattfindet oder vorbereitet wird. Insofern haben diese Bedenken grundsätzhe Bedeutung. Auch in der einschlägigen Verkehrs-Fachliteratur werden diese Aspekte bisher so gut wie gar nicht behandelt. Es dominiert die Unternehmensperspektive nach dem Motto „für uns ist es gut, und der Nutzer denkt sicher genauso, wie wir dies von ihm erwarten". Man setzt voraus, daß der Fahrgast ohne weiteres auf Bargeld verzichtet und die Preisberechnung dem Computer überläßt. Wirkliche Kundenwünsche werden dabei nicht erfragt. Der Berliner Fahrgastverband IGEB spricht sich nicht grundsätzlich gegen Versuche mit neuen Fahrschein-Angeboten und Zahlungswegen aus. Angesichts der zuvor genannten Bedenken fordert er jedoch, daß die Interessen der Fahrgäste im Falle der Einführung des „electronic ticketing" sehr viel größere Berücksichtigung finden als dies bisher geschehen ist.

So wurde doch bis vor wenigen Wochen im Zusammenhang mit dem „electronic ticketing" ganz ernsthaft die Errichtung von (mechanischen!) Zugangssperren auf U-Bahnhöfen propagiert, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie etwa Fahrgäste mit Kinderwagen, mit Gepäck oder im Rollstuhl diese Sperren passieren können...

IGEB

aus SIGNAL 7/1999 (November 1999), Seite 4-5

 

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