Nahverkehr

70 Jahre elektrisch
Die Berliner S-Bahn feierte Jubiläum

Vor 70 Jahren, am 8. August 1924, begann eine neue Ära im öffentlichen Nahverkehr Berlins und seiner Umlandgemeinden. An diesem Tag wurde der regelmäßige Zugbetrieb mit elektrischen Zügen auf der Vorortstrecke vom Stettiner Vorortbahnhof nach Bernau aufgenommen. Es war der Anfang einer umfassenden Modernisierung des Vorortverkehrs der deutschen Hauptstadt. Innerhalb von ca. 10 Jahren wurden alle wichtigen Strecken elektrifiziert, die Bahnanlagen und Bahnhöfe erneuert und der Fahrzeugpark vollständig durch moderne Wagen ersetzt. Die Deutsche Bahn AG und eine Reihe von Vereinen und Initiativen, darunter auch die Berliner S-Bahn-Museum GbR, nutzten dieses Jubiläum für Sonderfahrten, Ausstellungen und Veröffentlichungen.

Am 8. August 1924 verließ der erste elektrische Zug im Regeleinsatz den Stettiner Vorortbahnhof Richtung Bernau. Ab 1925 verkehrten auf dieser Strecke nur noch elektrische Züge, die Fahrzeiten konnten so deutlich verkürzt werden. Ebenfalls 1925 erfolgte die Betriebsaufnahme auf der Strecke nach Oranienburg, und 1927 folgte schließlich die dritte Nordstrecke: die Kremmener Bahn bis Velten. Zusammen bedeutete dies eine Streckenlänge von rund 70 Kilometern. Für die Deutsche Reichsbahn waren die Nordstrecken auch ein Experimentierfeld für die anschließende "große Elektrisierung" des übrigen Netzes, bei der bis 1930 fast alle wichtigen Strecken des Nahverkehrsnetzes der Eisenbahn in Berlin, darunter auch die Stadt- und die Ringbahn, für den elektrischen Betrieb ausgebaut wurden. 1930 ist außerdem das Geburtsjahr der Bezeichnung "S- Bahn", die heute im gesamten deutschsprachigen ein Qualitätsbegrif für attraktiven öffentlichen Verkehr ist.

S-Bahn
Foto: Thomas Billik
Plakat
S-Bahn nach Bernau im Sommer 1994. Auf dieser Strecke wurde vor 70 Jahren der elektrische Zugbetrieb aufgenommen. Aber "70 Jahre elektrisch" als "70 Jahre S-Bahn" zu feiern (Bild rechts), ist sicherlich fragwürdig. Dieses Plakat gehört zu einer kleinen Fotoausstellung auf dem S-Bahnhof Unter den Linden, die ansonsten jedoch als gelungen gewertet werden kann. Die interessantesten Plakate finden Sie auf den nächsten Seiten. Foto: Marc Heller

1933 erfolgte dann die Elektrifizierung der Wannseebahn. Zwischen 1934 und 1939 entstand die Nord-Süd-S-Bahn, überwiegend im Tunnel, als Verbindung zwischen den nördlichen und südlichen Vorortstrecken. Die Strecke war das Pendant zur Stadtbahn von 1882, mit der die Vorortstrecken im Osten und Westen verbunden wurden. Mit Fertigstellung der Nord-Süd-Strecke war zugleich für lange Zeit der technische und betriebliche Höhepunkt des elektrischen S-Bahn- Netzes erreicht. Die Gesamtstreckenlänge betrug nun ca. 245 km. Doch dann wurde von Deutschland der II. Weltkrieg begonnen, und an dessen Ende war auch die Berliner S-Bahn am Ende. Der Nord-Süd-Tunnel stand unter Wasser, Bahnhöfe und Strecken waren zerstört, und etliche Fahrzeuge sowie Gleise wurden von den Siegern fortgeschafft. Außerdem brachte der Krieg die Teilung Berlins und - neben vielen anderen Konflikten - einen fast 40-jährigen Streit um die Berliner S-Bahn.

Vom einst modernsten Nahverkehrsmittel wurde die Berliner S-Bahn in den 50er Jahren zum Vehikel des Kalten Krieges. Ursache dafür war, daß die vier Siegermächte 1945 die Betriebsrechte auch im Westteil Berlins der in der späteren DDR ansässigen Deutschen Reichsbahn zusprachen. Dies führte zum Streit um Hoheits- und Arbeitsrechte, zu Auseinandersetzungen um die Verbringung von Materialien von einem Sektor in den anderen und schließlich - nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 - zum S-Bahn-Boykott in West-Berlin.

Plakat
Foto: Marc Heller
Plakat
Rückblick und Ausblick. Die Plakate auf dem S-Bf. Unter den Linden zeigen erfolgte und geplante Lückenschlüsse im Netz der Berliner S-Bahn Foto: Marc Heller

Der als Folge des S-Bahn-Boykotts dramatische Fahrgastrückgang, natürlich auch durch gekappte Verbindungen und einen fehlenden Tarifverbund begründet, führte im Westteil Berlins dazu, daß die S-Bahn weitgehend im Dornröschenschlaf versank. Sie wurde zum nostalgischen Transportmittel aus der und in die Vergangenheit, gut für "Eisenbahnfreaks" und Querdenker über die Absurdität der deutsch-deutschen Realität. Ihre Verkehrsaufgabe übernahmen U-Bahn und Bus, vor allem aber das Auto, für das entlang der S-Bahn-Strecken Stadtautobahnen gebaut wurden. Erst nachdem der S-Bahn seit 1980 die endgültige Stillegung drohte, wurde sie durch den Druck der Bürger auf die Politiker wieder "wachgeküßt" und 1984 in das Netz der BVG (West) integriert. Eine mühsame Wiederaufbauphase mit finanziellen, technischen, baulichen und ideologischen Konflikten begann.

Anders im Ostteil der Stadt: Hier blieb die S-Bahn das Massenverkehrsmittel, auch wenn viele alte Verbindungen zerstört waren bzw. wurden und die notwendige Modernisierung nur teilweise gelang. Immerhin: Dort, wo neue Wohnbezirke, wie in Mahrzahn oder Hohenschönhausen entstanden, fuhr, noch bevor die erste Wohnung bezogen war, die S-Bahn. (Im Westteil gibt es hierzu genügend schlechte Gegenbeispiele.) Auch in die Vororte, z.B. nach Königs Wusterhausen oder Strausberg, wurde die S-Bahn verlängert. Nur vom Alex zum Zoo konnten die Ost-Berliner seit dem 13. August nicht mehr fahren.

Plakat
Foto: Marc Heller
Plakat
Foto: Marc Heller

Seit 1990 sind nun beide Teile der Stadt und ihre beiden S-Bahn-Netze wieder vereint. Einige Strecken sind wieder verbunden: die Stadtbahn sowie die Verbindungen Südring - Baumschulenweg, Berlin - Potsdam, Berlin - Blankenfelde und Berlin - Oranienburg über Frohnau. Zu viel liegt jedoch immer noch still, während daneben der Autoverkehr schon wieder - und wesentlich kräftiger als früher - "grenzüberschreitend" rollt.

Die Anforderungen an die Bahn sind beträchtlich: Vor allem müssen endlich die alten Verbindungen und die noch stillgelegten Strecken im alten West-Berlin wiederhergestellt werden (insbesondere Nordring, Anhalter und Kremmener Bahn, Spandauer Vorortstrecke). Außerdem müssen viele Streckenabschnitte, die in den Jahrzehnten seit 1945 nur unzureichend instandgehalten wurden, nun grundlegend modernisiert werden - z.B. ab Herbst 1994 die Stadtbahn. Hinzu kommt die Anschaffung neuer Fahrzeuge, um die z.T. über 60 Jahre alten Fahrzeuge ersetzen zu können. Bei knappen öffentlichen Haushalten und beträchtlichen politischen Widerständen gegen die rasche Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs werden aber viele berechtigte Wünsche zunächst unerfüllt bleiben.

Plakat
Foto: Marc Heller
Plakat
Für viel Diskussionsstoff sorgte dieses Plakat. Zunächst einmal muß positiv festgehalten werden, daß die Bahn, anders als der Berliner Senat, eine langfristige Strecken- und Terminplanung in der Öffentlichkeit zeigt. Doch Karte und Terminplan provozieren eine Reihe von Fragen. Bis zum Jahr 2000 soll die S-Bahn nur bis Spandau wieder in Betrieb genommen werden. Warum nicht bis Falkensee? Ist die Darstellung vielleicht sogar Ausdruck einer langfristigen Entscheidung gegen Falkensee? Erfreulich ist die Absicht, nach Teltow Stadt und langfristig offensichtlich darüber hinaus fahren zu wollen. Aber warum gibt es keine Zwischenstufe "Wiederinbetriebnahme von Lichterfelde Ost bis Lichterfelde Süd"? Diese Zwischenstufe wäre sehr viel schneller realisierbar, als der Neubau nach Teltow. Völlig unverständlich ist die Darstellung für Strausberg. Die vorhandene Strecke bis Strausberg Nord fehlt, dafür gibt es einen Pfeil für eine langfristige Verlängerung über Strausberg hinaus. Was soll das? Interessant ist, daß eine Verlängerung über Wartenberg hinaus nicht mehr vorgesehen ist. Die Kritikerder umstrittenen Verlängerung von Wartenberg bis Seilheimbrücke werden erleichtert sein, die Befürworter werden auf die vielen Vorleistungen für diese S-Bahn-Verlängerung verweisen. Freuen können sich die Fahrgäste im Raum Hennigsdorf/Reinickendorf. "Ihre" S-Bahn ist nun endlich gesichert. Allerdings muß vor einer Überwertung dieses Plakates gewarnt werden, denn es ist offensichtlich unter großem Zeitdruck entstanden und deshalb fehlerhaft. Beispielsweise wurde der in der Karte eingezeichnete Abschnitt Tegel - Hennigsdorf in der Terminliste vergessen, und beim unten stehenden Lückenschluß muß es "Neukölln" statt "Sonnenallee" heißen. Andernfalls wäre der Berliner S-Bahn-Ring auch im Jahr 2000 noch nicht vollständig wiederhergestellt. Foto: Marc Heller

Im 70. Jahr des elektrischen S-Bahn-Betriebes wurden den Bürgern als neues "Wundermittel" die Privatisierung der Eisenbahn und die geplante Gründung einer S-Bahn GmbH angepriesen. Die Entlastung von alten bürokratischen Hemmnissen, kundenorientiertes Verhalten und mehr wirtschaftliche Flexibilität werden versprochen. Ob das Rezept wirken wird, kann erst die Zukunft zeigen. Gegenwärtig ist, trotz einzelner neuer Ideen wie z.B. dem Fahrradexpreß, Skepsis angezeigt: Die großen, teilweise nicht nachvollziehbaren Einschränkungen des Betriebes durch Baustellen, verbunden mit oft unzureichender Information und unzumutbaren Pendelverkehren, und die aktuelle Benachteiligung der S-Bahn-Fahrgäste beim Ausbau der Stadtbahn für das Prestige-Projekt ICE sind hierfür Beispiele. Der Verzicht auf Behelfsbahnsteige als Ersatz für geschlossene S-Bahnhöfe auf der Stadtbahn und das Beharren der Bahn auf einem wahrscheinlich teureren und schlechteren Schienenersatzverkehr zu diesen geschlossenen Bahnhöfen wird bei Zehntausenden von Fahrgästen ebenfalls Zweifel wecken und viel Verärgerung erzeugen. Wichtig ist deshalb ein engerer Kontakt zu den Kunden und ihren Wünschen. Hierbei hat sich, wie die Erfahrungen seit Anfang der 80er Jahre zeigen, die Vertretung der Interessen der Fahrgäste in Verbänden bewährt. Die Bahn mit ihrer neuen Organisationsform kann hier anknüpfen.

Demnächst wird der Prototyp einer neuen S-Bahn-Generation vorgestellt werden. Dabei ist die Zukunft der S-Bahn in ihrer heutigen Form mit Gleichstrombetrieb auf manchen Strecken noch offen. So wird innerhalb der Bahn auch die Meinung vertreten, daß der Ausbau der Regionalbahn, u.U. sogar zu Lasten von S-Bahn-Strecken, den Vorrang genießen sollte. Daß dann aber immer noch alle 10 oder 20 Minuten ein Zug kommt, muß bezweifelt werden. Solche Gedankenspiele "Regionalbahn kontra S-Bahn" tragen mit dazu bei, daß die Wiederherstellung der noch stilliegenden S-Bahn-Strecken nicht oder nur viel zu langsam vorangeht. Zur Erinnerung: Das kriegszerstörte Netz wurde innerhalb von zwei Jahren vollständig wieder in Betrieb genommen, wenn auch z.T. nur eingleisig. Von solcher Geschwindigkeit unter schwierigsten Bedingungen können wir heute nur noch träumen.

Es zeigt sich, daß Etliches nicht so ist, wie es sein sollte. Da es dennoch gerade in den Jahren seit 1989 auch viele erfreuliche Neuigkeiten gab, hatte sich die Deutsche Bahn AG entschlossen, ein in jeder Hinsicht etwas ungewöhnliches Jubiläum zu feiern: den 70. Jahrestag der Aufnahme des elektrischen Vorortverkehrs in und um Berlin. Vom 6. bis 8. August gab es deshalb in Bernau eine umfangreiche Fahrzeugschau mit allen S-Bahn-Baureihen sowie vielen Informationsständen. Sonderfahrten des Vereins Historische S-Bahn e.V. mit dem S-Bahn-Traditionszug, ein "Tag der offenen Tür" in der Hauptwerkstatt (früher RAW) Schöneweide am 6. August und eine kleine, noch zu sehende Ausstellung auf den Plakatwänden des S-Bahnhofs Unter den Linden ergänzten das Programm. Darüber hinaus erschien anläßlich der Feier eine neue SIGNAL-Sonderausgabe mit dem Titel "70 Jahre elektrisch - Zur Entwicklung der Berliner S-Bahn".

Berliner S-Bahn-Museum

aus SIGNAL 7/1994 (September 1994), Seite 11-13

 

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