Titelthema 150 Jahre Straßenbahn

Warum hassen alle die Straßenbahn?

Im Verkehr fast so schnell wie die U-Bahn, aber viel rascher und preiswerter zu bauen und für die Fahrgäste viel leichter zu erreichen. Genauso schnell wie eine S-Bahn, wenn deren Strecken oder andere Trassen der großen Bahn mitbenutzt werden. Mit mehr Fahrkomfort als ein Bus. Leise, abgasfrei, energieeffizient. Die Straßenbahn ist ein optimales Verkehrsmittel. Warum stößt sie dennoch auf so viel Widerstand?

In Hamburg hat Olaf Scholz die Richtung gleich nach den jüngsten Wahlen noch einmal bekräftigt, und die Grünen als sein neuer Koalitionspartner sind dem Ersten Bürgermeister dabei gefolgt: In der Hansestadt soll im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte eine lange U-Bahn-Linie gebaut, attraktiver öffentlicher Nahverkehr auf den Straßen ausschließlich mit Bussen angeboten werden. Die Tram kommt ganz bestimmt nicht an die Alster zurück.

Das ist Verkehrspolitik aus den sechziger Jahren, die aber in einer Hinsicht von einer Entwicklung der jüngsten Zeit herrührt: dem erfreulichen Trend zur direkten Demokratie, der endlich auch in Deutschland eingesetzt hat. Scholz und seine SPD-Genossen lehnen die Straßenbahn nicht zuletzt deshalb so vehement ab, weil sie Angst haben vor einem erfolgreichen Volksbegehren gegen die Wiedereinführung der Straßenbahn. Als wichtiges Argument für die U-Bahn-Baupläne wird denn auch genannt, diese könnten ohne große oberirdische Störungen umgesetzt werden: Kilometerweit möchte man sich im Schildvortriebsverfahren durch Hamburgs Untergrund bohren, kostspielig und zeitraubend, aber bürgerberuhigend.

Leider ist Hamburg kein Einzelfall. Auch in anderen Städten sorgen sich Politiker um den Widerstand, den Pläne zum Neubau von Straßenbahnstrecken oft auslösen. Dabei sollte es eigentlich genau umgekehrt sein: Das Land müsste vor Bürgerinitiativen wimmeln, die die Errichtung konkret benannter Tramtrassen fordern und zur Not per Volksentscheid durchsetzen. Politiker müssten fürchten, als Zauderer, unfähige Planer und Anhänger völlig überholter Verkehrskonzepte dazustehen, wenn sie sich benehmen wie Olaf Scholz. Oder wenn sie es schaffen, den Ausbau des Straßenbahnnetzes so zu verschleppen und auf Schneckentempo zu reduzieren, wie es in Berlin seit Jahren geschieht.

Stattdessen können sie nicht nur auf die mittlerweile übliche Gleichgültigkeit entpolitisierter, eingeschläferter Bürger zählen. Sondern auch auf die Abneigung, welche der Straßenbahn stärker entgegenzuschlagen scheint als irgendeinem anderen Verkehrsmittel. Mag sie in anderen Ländern seit langem eine Renaissance erleben – in Deutschland gibt es nur hier und da hoffnungsvolle Ansätze.

Fußgänger und Straßenbahn auf dem Alex
Berlin Alexanderplatz. Die Straßenbahn ist gefährlich: Sie überfährt hinterrücks unschuldige Fußgänger, während die Anwohner vor Räderquietschen und Scheppern nicht schlafen können. Außerdem nimmt sie mitten auf dem Alex ganz viele Pkw-Parkplätze weg. Auf der Straße verwirrt sie Autofahrer, und Radfahrer stürzen in ihre Rillenschienen. Foto: Florian Müller

Vielleicht liegt dies an der großen Liebe der Deutschen zum Auto. Aus dessen Perspektive wurde die Straßenbahn ja schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen als Hauptfeind ausgemacht. Als die Massenmotorisierung noch eine Fiktion war und die Behauptung, Berlin habe Straßenverkehrsprobleme, lächerliche Angeberei, wurde die Tram nicht nur zum Verkehrshindernis erklärt, sondern für schlichtweg veraltet. Dem Bus, der damals nur einen geringen Teil des Fahrgastaufkommens im hauptstädtischen ÖPNV bewältigte, verlieh man das Image, viel moderner zu sein. Auch die BVG begann seinerzeit, statt vom Omnibus immer häufiger vom „Autobus“ zu sprechen: So erschien er als Verkehrsmittel, das dem zum Maß aller Dinge auserkorenen Privat-Pkw schon recht nahe kommt.

Als man bald nach 1945 nicht nur in Berlin mit der Reduzierung oder völligen Zerstörung der Tramnetze begann, zeigte sich oft: Es ging nicht nur darum, einen Konkurrenten um den trotz aller großflächigen Kahlschläge und großzügigen Straßenverbreiterungen begrenzten Verkehrsraum zu beseitigen. Auch in West-Berlin fuhr die Straßenbahn nicht selten auf eigenem Gleiskörper, und wo dieser verlaufen war, legte man anschließend nicht immer neue Fahrspuren oder Parkplätze an. Mancherorts werden die früheren Tramflächen bis heute kaum genutzt, es sei denn als Erholungsangebot für Menschen, die gern auf dem Mittelstreifen einer Hauptverkehrsstraße ein wenig ausspannen und mal richtig durchatmen möchten.

Natürlich ist der Egoismus von Anwohnern, die sich wegen einer neuen Tramstrecke um den Fortfall von Parkplätzen sorgen, nachvollziehbar. Allerdings handelt es sich dabei auch schon um so ziemlich den einzigen rationalen Einwand, der vorgebracht wird.

Mal quietscht die Straßenbahn angeblich – was natürlich nicht hinzunehmen wäre angesichts des leisen, lieblichen Wohlklangs, mit dem sich der Kfz-Verkehr allen voran auf Hauptstraßen bewegt. Dann wieder ist sie zu leise – und damit verantwortlich für schockierende Unfälle. Schließlich lässt sich gerade bei einer Bahn nie so genau erkennen, wo diese auftauchen und entlangfahren könnte. Ferner verschandelt die Tram die Straßen, bedroht die Bäume, könnte Häuser zum Einsturz bringen – kein Argument gegen die Straßenbahn scheint zu dumm zu sein. Offenbar reagieren auf deren bloßen Anblick manche Menschen allergisch. Und veranstalten dann auch mehr Lärm als jene, die sich eine Verbesserung des öffentlichen Verkehrsangebots wünschen.

Dabei steht die Abneigung gegen die Tram nicht nur in krassem Gegensatz zu ihrem Wert und Nutzen: In der Regel übertrifft der Fahrgastzuspruch, den eine neue Strecke genießt, auch die Erwartungen. Doch mit solch guten Argumenten scheint man eingefleischten Straßenbahnhassern kaum beikommen zu können. Sollte man es angesichts dessen überhaupt noch versuchen?

Jan Gympel

aus SIGNAL 3/2015 (Juli 2015), Seite 14

 

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