Nahverkehr

Das Dutzend ist voll!
Zwölfte BVG-Fahrplanausdünnung unter CDU/SPD-Senat

Zum 25. September gab es eine Reihe von Linien- und Fahrplanänderungen im gesamten Netz der Verkehrsgemeinschaft Berlin-Brandenburg (VBB). Die ursprünglich ebenfalls zu diesem Zeitpunkt vorgesehene Wiederinbetriebnahme der S-Bahn-Strecken nach Tegel und Lichterfelde Ost hat aber nicht stattgefunden und soll nun voraussichtlich im Mai 1995 (siehe Seite 9) nachgeholt werden. In Betrieb genommen wurde demgegenüber nach 10-jähriger Bauzeit der Nordabschnitt der U8 von Paracelsus-Bad bis zum S-Bf Wittenau. Deshalb lag bei der Umgestaltung des Busnetzes der Schwerpunkt dieses Mal im Berliner Norden. Und schließlich erfolgten zum Fahrplanwechsel gravierende Angebotseinschränkungen auf 35 U-Bahn- und Buslinien!

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Vor allem die modifizierte Linienführung des 221 ers sorgt für eine verbesserte Binnenerschließung des Märkischen Viertels. Foto: I. Schmidt

Zum sogenannten kleinen Fahrplanwechsel am Beginn des Winterhalbjahres gab es dieses Mal Fahrplanänderungen auf ca. 150 (!!) S-Bahn-, U-Bahn-, Tram-, Bus- und Nachtlinien. Selbst dieser fast komplette Fahrplanwechsel war für die VBB wieder kein Anlaß, ein neues Kursbuch herauszugeben! Zwar gab es einen kostenlosen Nachtrag zum Kursbuch, aber nun müssen die Fahrgäste wieder zwischen dem alten Kursbuch und der beinahe 200 Seiten starken "Ergänzung zum Fahrplan 1994/95" hin- und herblättern, um die richtigen Abfahrzeiten zu finden. Aber selbst dann haben sie möglicherweise noch nicht den richtigen Fahrplan vor sich, denn seit dem 1. November gelten auf mehreren Buslinien schon wieder neue Fahrpläne - ohne Information der Öffentlichkeit.

Weiter reduziertes BVG-Angebot

Die einzige größere Verbesserung im BVG-Angebot, die U8-Verlängerung, mußten die Berliner Fahrgäste teuer bezahlen: Zum 12. Mal in Folge seit Antritt des schwarz-roten Senats ist das Fahrplanangebot der BVG dünner geworden. Damit die BVG die vom Abgeordnetenhaus verordneten dramatischen Streichungen wenigstens teilweise auffangen kann, mußte sie wieder tief in die Kiste der Fahrgastschikanen greifen:

  • Taktausdünnungen gab es auf über 20 Buslinien. Z.T. sind sie, wie z.B. auf der Buslinie 18o, noch nicht einmal im Ergänzungsfahrplan vermerkt.
  • Bei der U-Bahn wurden - ausgerechnet im Berufsverkehr - auf den Linien U2 und U7 die Takte von 3 auf 3,5 Minuten gestreckt.
  • Zu bestimmten Zeiten auf verkürzten Strecken fahren mehrere Buslinien, wie z.B. die Vorzeigelinie 100.
  • Zu bestimmten Zeiten eingestellt wurden 5 Buslinien, fast alle im Ostteil Berlins.
  • Dauerhaft und ersatzlos eingestellt wurden die Buslinie 482 und der westliche Abschnitt des 142ers.

Wie sehr sich jede einzelne dieser Maßnahmen auf die Attraktivität und die Nutzung des ÖPNV auswirkt, braucht hier nicht vertieft zu werden. Den Berliner Politikern, die für diese Maßnahmen die Verantwortung tragen und gleichzeitig immer neue und immer fragwürdigere Milliarden-Projekte (vom Straßenneubau über die U5-Verlängerung bis zum Transrapid) anschieb sind diese Auswirkungen anscheinend nicht einmal ansatzweise klar.

Die Politiker und die Schmierereien

Anläßlich der U8-Eröffnung konnten alle Politiker vor laufenden Kameras wieder ihr Engagement und ihre Sachkenntnis zum ÖPNV bekunden. Demnach haben die Berliner Fahrgäste offenbar nur ein Problem, und das heißt Graffiti. Natürlich sind diese Schmierereien ein Ärgernis, aber weitaus gravierender sind die Fahrgäste durch ausgedünnte Takte, verpaßte Anschlüsse usw. angeschmiert!

Wahlmöglichkeit: U8 oder X21?

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Foto: I. Schmidt
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Ein echter Renner: Die neue ExpressBus-Linie X21 von Rosenthal Kirche durch das Märkische Viertel bis zur Deutschlandhalle - aber leider mit 10-jähriger Verspätung. Ärgerlich und unverständlich ist auch, daß die Linie nur bis 20 Uhr verkehrt. Dies ist sicher kein Anreiz für Autofahrer, zum Besuch von Abendveranstaltungen in der Deutschland- oder Eissporthalle auf die BVG umzusteigen. Foto: I. Schmidt

Zur U-Bahn-Verlängerung wurden von der BVG endlich auch Peinlichkeiten wie die alte Linienführung des 124ers beseitigt, der selbst nach tariflicher Integration der S-Bahn fast ein Jahrzehnt (!) konsequent am S-Bf Wittenau vorbeigeführt wurde.

Wichtigste Neuerung im Norden ist die Einführung der Express-Buslinie X21 von Rosenthal, Kirche zur Deutschlandhalle. Hätte man diese Express-Buslinie 10 Jahre früher eingefuhrt, wäre der Beweis erbracht worden, daß man die knapp 600 Mio DM zur Verlängerung der U8 für andere ÖPNV-Projekte sinnvoller hätte ausgegeben können: Denn für viele Fahrgäste aus dem Märkischen Viertel mit Zielen in der West-Berliner Innenstadt ist der X21 jetzt die schnellste Verbindung!

Aber damit die BVG-Fahrgastzahlen auf der neuen Schnellbus-Verbindung nicht zu groß werden, wurden vom Verkehrssenator rechtzeitig entlang der Fahrstrecke etliche Busspuren abgeschafft, und aufgrund der Senatssparvorgaben wird der Abschnitt südlich des Jakob-Kaiser-Platzes nur im 20-Minuten-Takt bedient. Abends verkehrt die Express-Buslinie gar nicht, und dies ist besonders ärgerlich. Während im Nordabschnitt durch die Linie 121 wenigstens ein Alternativangebot besteht, bleiben die Vorteile der neuen Tangentialverbindung zur Deutschlandhalle begrenzt: Nord-Berliner Besucher von Veranstaltungen in der Deutschlandhalle, auf dem Messegelände oder im ICC und auch am Busbahnhof ankommende Reisende müssen dann auf dem Rückweg umsteigeträchtige Umwege mit Reisezeitverlängerungen bis zu einer halben Stunde in Kauf nehmen, weil der letzte X21 längst abgefahren ist.

Besseres Netz, aber schlechteres Angebot

Auf die zahlreichen anderen Linienänderungen kann hier nicht einzeln eingegangen werden. Eine Reihe von längst fälligen Verbesserungen sind jedenfalls realisiert worden, z.B. die bessere Anbindung des Humboldt-Krankenhauses, die bessere Anbindung und vor allem bessere Binnenerschließung des Märkischen Viertels oder die durchdachte Heranführung des 122ers an den Umsteigeknoten Kurt-Schumacher-Platz. Von "Kleinigkeiten" abgesehen, die zumeist durch den vom Senat auferlegten radikalen "Sparzwang" bedingt sind, könnte die Neuordnung des Busliniennetzes als deutliche Verbesserung bewertet erden - aufgrund der umfangreichen Taktausdünnungen auf vielen Streckenabschnitten hat sich für viele Fahrgäste das BVG-Verkehrsangebot insgesamt jedoch verschlechtert.

Hausgemachte BVG-Probleme

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Exklusiv für Flugreisende. Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert, daß die ExpressBus einerseits wegen ihrer unzureichenden Auslastung, andererseits wegen Überlastung des 145ers, einen zusätzlichen Halt am U-Bf Richard-Wagner-Platz erhalten. Foto: I. Schmidt

Die Verschlechterung im Ganzen hängt auch mit einem hausgemachten BVG-Problem zusammen: der völlig fehlenden Anschlußsicherung, selbst an Hauptumsteigepunkten! Obwohl inzwischen auch während der Normalverkehrszeiten praktisch alle Nord-Berliner Buslinien nur noch im 20-Minuten-Takt verkehren und fahrplanmäßig z.B. am U-Bf Tegel Umsteigeanschlüsse zwischen fast allen hier verkehrenden Buslinien vorgesehen sind, ist das Umsteigen dennoch ein reines Glückspiel. Hier und an vielen anderen Punkten der Stadt muß dringend Abhilfe geschaffen werden. Daß das möglich ist, zeigt die BVG selbst, wenn in den Abendstunden bei funkgesicherten Anschlüssen in der Regel ein direktes Umsteigen garantiert ist.

Auf mehreren Buslinien setzt die BVG seit dem Fahrplanwechsel im Abendverkehr Kleinbusse von privaten Unternehmern ein. Dies erfolgte jedoch ohne vorherige Information der Fahrgäste und ohne eine auf den meisten Linien dadurch erst recht mögliche deutliche Verkürzung der Fahrzeiten.

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Foto: I. Schmidt
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Kleinbusse im Abendverkehr auf der Treptower BVG-Linie 160. Seit September werden abends auf mehreren BVG-Linien solche und andere Kleinbusse privater Unternehmen eingesetzt. Nicht nur wegen der plötzlichen Typenvielfalt, die z.T. auf einer Linie zu finden ist, sondern auch wegen der häufig unzureichenden Beschilderung wäre eine Information der Fahrgäste notwendig gewesen. Foto: I. Schmidt

Eine Buslinie kam trotz aller Sparvorgaben ungeschoren davon, obwohl sie mit ihrem 10-Minuten-Takt (!) nur eine geringe Auslastung hat: Der Flughafen-Express X9. Auch ein dreiviertel Jahr nach seiner Einführung fahren die meisten Busse noch immer halb leer durch die Stadt, obwohl inzwischen am U-Bf Ernst-Reuter-Platz eine zusätzliche Haltestelle eingerichtet wurde. Für die Menschentrauben, die sich an den Haltestellen der bis zur Schmerzgrenze ausgedünnten Buslinie 145 sammeln, sind die vorbeifahrenden X9-Busse mit den vielen leeren Plätzen die reinste Provokation. Wenn eine solche Flughafen-Express-Buslinie überhaupt eine Existenzberechtigung hat, dann nur, wenn sie auch noch andere Aufgaben neben dem Flughafen-Zubringerdienst abdecken kann. Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert daher die Einrichtung einer zusätzlichen Haltestelle am U-Bf Richard-Wagner-Platz.

Nachts schneller

Gravierende Änderungen gab es im Nachtlinienfahrplan, da hier endlich eine deutliche Straffung der Fahrzeiten erfolgte. Dabei kam es bei einzelnen Linien zu einer Verkürzung der Fahrzeiten um bis zu einer Viertelstunde (!), was z.T. eine Reduzierung der eingesetzten Fahrzeuge ermöglichte. Durch diese Beschleunigung ergab sich ein teilweise völlig verändertes Anschlußsystem. Zwar entfielen im Einzelfall bisher bestehende Direktanschlüsse, aber unter dem Strich konnte das Anschlußsystem deutlich verbessert werden.

Fahrgastfreundliches Sparen

Die Straffung der Fahrzeiten im Nachtliniennetz sollte Schule machen, denn neben den positiven Auswirkungen für die Fahrgäste durch Reduzierung der Reisezeiten und Wegfall des schon legendären Schleichens der Berliner Busse in den Schwachverkehrzeiten sind Einsparungen durch einen geringeren Wagen- und Personaleinsatz möglich. Eine konsequente Reduzierung der Fahrzeiten auf der Mehrzahl der Bus- und Tramlinien im Spätverkehr ist längst überfällig, und deshalb sollte dieses heiße Eisen endlich angepackt werden.

IGEB

aus SIGNAL 9-10/1994 (Dezember 1994), Seite 12-14

 

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